März 2006
Lieber Rolf,
ich möchte nur kurz blitzlichtartig loswerden, dass ich begonnen habe,
unsere gemeinsame Arbeit (ich rede von meinen Schülern und mir) vom
Kopf auf die Füße zu stellen. Die Kinder haben mich davon überzeugt,
durch ihre beharrliche Verweigerung, im gelenkten Unterricht zu
funktionieren wie geplant. Ich muss meinen "Unterkurs" (die
"Schwächeren" Mathe-Schüler) in der 6. Klasse auf eine Vergleichsarbeit
im Mai vorbereiten, wo es um Bruchrechnung geht. Ich lege ihnen eine
Beispiel-Klassenarbeit hin, damit sie schauen und ausprobieren können,
wie so etwas aussieht und wie es sich anfühlt. Ich gebe ihnen eine
Unmenge sequenziell aufgebauter und selbst erklärender Arbeitsblätter.
Manchmal stehen Äpfel oder ein Kuchen zum essen (und teilen) da. Man
kann sitzen, wo man will, und arbeiten (oder reden, malen, … was dran
ist), mit wem man will. Natürlich kann man auch den Raum verlassen und
wiederkommen. Für die, die mehr Struktur wollen, gibt es auch
vorgefertigte konservative Arbeitsblätter mit Aufgabenstellungen.
Demnächst kommt ein Lerntagebuch dazu, in das kurz vor dem Ende unserer
gemeinsamen Zeit geschrieben wird. Ein Plakat mit Post-It-Zetteln wird
Auskunft geben, wer welches Thema schon bearbeitet hat, damit man weiß,
wen man fragen kann. Verbindlich ist die Aufgabe, in einem Extra-Heft
oder Hefter ein "Fachbuch" zum Thema Brüche herzustellen, in dem man zu
vorgegebenen Kapitelüberschriften alle Fachbegriffe, Phänomene und
Verfahren verständlich erklärt. Ich versuche zu trennen zwischen der
Vorgabe, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmten Thema zu
erarbeiten, und der Offenheit, wie und in welchem Rhythmus das in
unserer gemeinsamen Lernzeit geschieht. Die Kinder verstehen das, und
ich glaube, man kann es ihnen in der sechsten Klasse auch zumuten, so
wie uns Erwachsenen ja auch manches zugemutet wird. Man muss die
Zumutung nur als solche bezeichnen und sich dann produktiv mit ihr
auseinandersetzen, anstatt sie unreflektiert an die Kinder
weiterzugeben.
Deine Homepage und dein Buch (Netze spinnen) habe mir wertvolle Impulse
gegeben. Viele sind ja der Meinung, dass eine Öffnung des Unterrichts
in der Sek I nicht so funktioniert. Meine Antwort: Den Kindern
Selbstständigkeit zutrauen und ihnen die Verantwortung für ihren
Lernprozess übertragen geht auch in der Sek.
Ich versuche, zur Bruchrechnung ähnlich selbsterklärende Arbeitsblätter
herzustellen. Eine Kostprobe lege ich bei.
Es gäbe viel mitzuteilen. Ich gehe jedenfalls morgens zum ersten Mal
seit langem wieder gern in die Schule! Ich bin froh, dass ich den Mut
gefunden habe — oder die Verzweiflung groß genug war — aus dem Gleis
auszuscheren.
Jetzt habe ich doch viermal so viel geschrieben wie geplant, statt
schlafen zu gehen.
Es ist ja erst der Anfang vom Weg, und ich wollte melden: ich bin
losgegangen, und es geht auch in der ganz normalen Schule und in der 6.
Klasse und in 45 Minuten und in zusammengewürfelten Kursen. Wenn man
das andere nur ausreichend satt hat beziehungsweise aufhört, die Augen
davor zu verschließen, wie menschenunwürdig die normale Schule ist,
dann mag man keine Entschuldigungen mehr hören.

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