Unterricht – Ein nichtlineares dynamisches System Ein groß gewachsener Mensch marschiert vor einer Gruppe von kleineren Personen durch eine Landschaft im Nebel. Er führt seine Schützlinge und hält eine große Laterne in der Hand, mit der er weit nach vorne leuchtet. Hin und wieder wendet er sich um und schaut nach, ob ihm noch alle folgen. Manchmal drosselt er sein Tempo. Behutsam sucht er einen gangbaren Weg und führt die Menschen um Hindernisse herum. Am Anfang des Jahres ist er gestartet, hat sich vorher gewissenhaft auf den Marsch vorbereitet, die Strecke vermessen und Etappenziele abgesteckt. Am Ende des Jahres hat er einen fest definierten Punkt zu erreichen. Möglichst so, dass die gesamte Gruppe dort anlangt. Wenn man über eine neue Art von Schule nachdenken möchte, dann muss man in das Herzstück der Institution vordringen: dem Unterricht. Eine Analyse der Schwächen und der Chancen zur Weiterentwicklung des klassischen Schulsystems muss zunächst an diesem Punkt ansetzen. Analysieren wir diese Metapher für den klassischen Unterricht. Auffällig ist, dass der Lehrer als ein „Führer“ agiert. Schon allein dieses Bild suggeriert eine Menge Botschaften an die Schüler: „Folgt dem Lehrer und bleibt dich hinter ihm, sonst kommt ihr vom Weg ab.“ Ein eigener Weg ist also für keinen Schüler möglich. Schon allein die Tatsache, dass per se eine Leitfigur die Strecken bestimmt, es den Kindern/Jugendlichen also nicht möglich ist, sich selbst einen Weg zu suchen, zu lernen – Planung der Strecken, Beseitigung von Hindernissen usw. – und der Lehrer ihnen viele weitere Aufgaben abnimmt, wird signalisiert, dass man ihnen die Bewältigung derselben nicht zutraut. Was hat das für Konsequenzen für das Selbstbewusstsein von jungen Menschen? Zudem strahlt der voran gehende Lehrer die Gewissheit aus, den richtigen Weg immer zu kennen. Diese Wanderung ist also, alles in allem, eine Art „Entertainment- Veranstaltung“ bei der der Gruppenführer die komplette Organisation und die Verantwortung übernimmt. Für Misserfolge, Verirrungen und andere Probleme der Schüler wird er alleine verantwortlich gemacht. Und wie sollen sie es lernen, jemals Verantwortung für ihr eigenes Tun zu übernehmen? Der Schüler ist bei dem Geschehen in jeder Hinsicht passiv, lässt sich führen, denkt nicht über den Weg nach, der ihm ja ohnehin aufgezwungen wurde, und ist entsprechend unmotiviert auf dieser Wanderung. Nachhaltiges Begreifen bleibt also buchstäblich auf der Strecke. Während der Verarbeitung, während des Unterrichtsgeschehens ist der Lehrer der unangefochtene „(Be)Herrscher“ des Geschehens. Er nimmt die Beiträge auf, die die Schüler liefern, verallgemeinert diese und ordnet die Bemerkungen in den Rahmen des Stundenthemas ein. Dabei bewertet er diese ganz gezielt: weniger wichtige Beiträge werden außen vor gelassen und nicht vertieft, „nicht zum Thema gehörige“ Kommentare werden abgeblockt, und „wertvolle“ Bemerkungen, die den „Lernprozess“ dem Stundenziel näher bringen, nimmt der Lehrer auf, abstrahiert diese und führt von dieser Erkenntnis aus zum nächsten Etappenziel. Als Konsequenz aus dieser Betrachtung muss man zu dem Schluss kommen, dass Schüler in die Schule gehen, damit die Lehrer abstrakt denken lernen! Und das war eigentlich nicht das Ziel. Betrachtet man den Verlauf einer normalen Unterrichtsstunde, so wird diesem oftmals durch den Lehrer eine lineare Komponente aufgezwungen. Das Tempo ist zumeist gleichmäßig und variiert nur geringfügig. Jeder soll in derselben Zeit dasselbe schaffen. Im Unterricht sollen Schüler lernen. Doch wie kann man in einem fest gefügten, starren, eben linearen Rahmen lernen, wo doch der Lernprozess an sich nichtlinear, dynamisch, unvorhersehbar (auch kleine Veränderungen können große Veränderungen haben), eben Chaos ist? Das ist bloß einer der Mängel im traditionellen Unterrichten. Zur Beschreibung von Schule und generell zum Beschreiben der Welt werden – nicht nur in der Literatur – Analogien angewandt, um Prozesse besser verständlich zu machen, illustrieren zu können. Ein weiteres möchte ich an dieser Stelle anführen. Nehmen wir an, eine Unterrichtsstunde ließe sich mit einer Maschine vergleichen – wenngleich dieser Vergleich in höchstem Maße unvollständig und für das Wunder des Menschen völlig unzureichend ist. Ein jeder Computer arbeitet nach dem so genannten „EVA- Prinzip“. Diese Abkürzung steht für Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe. Die Daten werden in die Maschine eingespeist, dort gespeichert, verarbeitet, transformiert und dann wird das Ergebnis ausgegeben. Stellen wir uns nun eine Maschine vor, die aus den Komponenten Lehrer und Schüler besteht. Welcher der beiden Parteien würde im klassischen Unterricht welche Aufgabe wahrnehmen? In herkömmlichem Unterricht übernimmt der Lehrer den Input, indem er Materialien bereitstellt, Recherchehinweise gibt oder eine Einführung/Vertiefung in das Stoffgebiet gibt. Ebenso verarbeitet er die Informationen, die er selbst den Schülern präsentiert hat, 1) indem er sie eben vorstellt und sich Gedanken macht, wie diese zu lehren sind, und 2), da er die von Schülern geäußerten Gedanken abstrahiert. In jedem Fall gibt der Lehrer den Algorithmus – also die Anweisung zum Umgang mit den Informationen – vor. Oder es kommt gar nicht zu diesem Schritt, weil von vornherein nur frontal Ergebnisse dargestellt und danach nicht „verdaut“ werden. Die Ausgabe übernehmen die Schüler, indem sie das eingespeiste und vorgekaute Wissen möglichst detailgetreu wiedergeben und erfolgreiche Klassenarbeiten schreiben. Diesen Vergleich können wir stillschweigend zur Kenntnis nehmen. Ist dies jedoch ein Unterricht, den wir uns wünschen? In meiner persönlichen Vision von gutem Unterricht übernimmt ein Schüler alle drei Parts in der fiktiven Maschine. In der „Wissensgesellschaft“ ist die Kompetenz der Wissensbeschaffung bedeutend höher angesiedelt als das mechanische Auswendiglernen von einer Menge Fakten – da die exponentiell ansteigende Masse von Information von niemandem mehr beherrscht wird. Der Schüler sollte sich selbst alles Notwendige beschaffen und damit den Grundstein für den Erwerb dieser so wichtigen Fähigkeit legen. Um Wissen abzuspeichern und wirklich zu verstehen, muss zwangsläufig eine Verarbeitung stattfinden. In einem Unterricht, in welchem nur der Lehrer verarbeitet, lernt auch nur der Lehrer. Eigentlich geht ja der Schüler in die Schule, um zu lernen und das Lernen zu lernen. Neben der Verarbeitung verbleibt schlussendlich auch dem Schüler die Aufgabe, sich selbst und seine neu gewonnen Fähigkeiten und Erkenntnisse zu präsentieren – in welcher Weise auch immer. Nach durchlaufen dieser Arbeitsschritte kann der Schüler das stolze Gefühl haben, alleine eine wichtige Aufgabe inklusive aller Hürden gemeistert zu haben. Durch das gute Gefühl, selbst etwas geschaffen zu haben, wird das Gelernte positiv abgespeichert und das gewonnene Selbstwertgefühl stärkt nicht nur die Persönlichkeit, sondern motiviert auch für kommende Aufgaben. Bei diesem Prozess muss und soll der Lehrer nicht außen vor bleiben. Anstelle der Position des allmächtigen Übermenschen (Woher nahmen Lehrer in der Vergangenheit auch die Legitimation ihrer übergeordneten Position? Soll ein Mensch über einen anderen bestimmen – in diesem Fall mit sogar sehr großem Einfluss auf den zukünftigen Werdegang und beruflichen Chancen des Schülers – nur weil er ein paar Jahre älter ist und ein Lehramtsstudium absolviert hat?) sollte der Pädagoge der Übersetzung seiner Berufsbezeichnung folgen: Spielgefährte, Freund und Begleiter seiner Schüler sein, die er für einen Teil ihres Lebens begleiten darf. Aus diesem neuen Ethos des Lehrers und einer Sichtweise auf Schüler als Individuen ergibt sich eigentlich ganz automatisch ein anderer Unterricht. Und so könnte ein modernes Bild von Unterricht aussehen: Eine Gruppe von Menschen wandert durch die Dunkelheit. Ein jeder trägt sein eigenes Licht und darf es leuchten lassen. Jeder leuchtet eine andere Richtung aus. Der Lichtkegel insgesamt leuchtet eine viel größere Region aus, als die einzelne Lampe eines Einzelnen es vermocht hätte. Eines Tages werden sie nicht mehr in der Gruppe zusammen gehen. Doch ein jeder ist dann stark genug, alleine den eigenen Weg zu finden. |